Laudatio 2014
Beste deutschsprachige Kurzgeschichte
Im Essener Gruga-Park sucht ein Pärchen Schutz vor einem Unwetter in einem baufälligen Aussichtsturm. Als sie nach einiger Zeit wieder herauskommen, finden sie einen völlig verfallenen, eingestürzten Turm in einer Geröllwüste vor, von der Großstadt Essen oder auch nur irgendwelchem Leben keine Spur. Sie treffen auf eine Gruppe von Personen, die alle durch einen Turm aus ihrer angestammten Welt herausgerissen wurden und nun mit diesem durch immer wechselnde Parallelwelten reisen, stets in der Hoffnung, ihre eigene Welt wiederzufinden. Chris Folke, Hauptprotagonistin der Geschichte, erfährt viele verschiedene Welten, teils aus eigenem Erleben, teils aus Erzählungen anderer aus ihrer jeweiligen Welt gerissenen Personen.
»Seitwärts in die Zeit« verwendet mit dem Tor in eine fremde Welt einen archetypischen Topos phantastischer Erzählungen. Doch im Gegensatz zu vielen anderen derartigen Geschichten ist das Tor hier kein stabiler Angelpunkt, der nach Belieben durchschritten werden und als Fluchtpunkt dienen kann. Dieses Tor, dieser verwahrloste Turmkeller ist gestaltgewordene Unsicherheit: Es ist völlig unvorhersehbar, wann und wohin der nächste Durchgang führen wird, und es ist eine Einbahnstraße ohne die Möglichkeit der Rückkehr. Die Hoffnung, daß die nächste Welt wieder die eigene ist und man so zurückkehren kann, wird jedesmal aufs Neue enttäuscht, und die Angst, den nächsten Durchgang zu verpassen und dadurch für immer auf der aktuellen Welt gestrandet zu sein, ist ständiger Begleiter der unfreiwillig aus ihren Welten Geworfenen.
Axel Kruse nutzt diese extreme psychische Belastung, um die Eigenschaften seiner Protagonisten deutlich hervortreten zu lassen. Sie reagieren unterschiedlich auf den Druck: Manche zerbrechen, werden lethargisch oder verlieren den Verstand. Andere nutzen Gelegenheiten, um Macht auszuüben, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen. Die zentralen Protagonisten haben ebenfalls ihre Schwierigkeiten, mit den stets wechselnden Gegebenheiten zurechtzukommen, Beziehungen zerbrechen oder werden auf eine starke Belastungsprobe gestellt.
Die bereisten Parallelwelten sind höchst unterschiedlich und werden in ihren wesentlichen Eigenschaften deutlich charakterisiert. Vom Leser zunächst unbemerkt, da vom Autor zu keinem Zeitpunkt deutlich ausgesprochen, haben alle einen Bezug zu unserer eigenen Welt. Nach einer in der Geschichte geäußerten Schätzung sind nur etwa 10% der besuchten Welten von Menschen bewohnt, der weitaus größte Teil sind leblose Wüsteneien mit Spuren ehemaliger menschlicher Besiedlung, eine deutliche Mahnung, wie nah an der Selbstzerstörung durch Waffen und Umweltverschmutzung die Menschheit ist. Andere sind unzugänglich, da es dort keinen Turm gibt, die Kellertür daher ins Erdreich oder soliden Fels führt. Durch eine Höhle kann eine derartige Welt doch besucht werden, es wird eine Gesellschaft auf Steinzeitniveau vorgefunden, die durch einen Machtkampf unter den Reisenden aus modernen Welten zerstört wird – ganz wie Machtgier und Habsucht der »zivilierten« Welt die letzten indigenen Gesellschaften dieses Planeten zu vernichten drohen. In einer mittelalterlichen Feudalgesellschaft sind die Kleinbauern den Landesherrn schutzlos ausgeliefert, ihnen bleibt kaum genug zum Überleben, und die fürstlichen Schergen vergewaltigen nach Lust und Laune. Meint man auch in Europa dieses Stadium seit Jahrhunderten überwunden zu haben, so ist es heutiger Alltag für Kleinbauern in den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern, die den Großgrundbesitzern ausgeliefert sind. Ein Essen in Trümmern mit sich bekämpfenden Soldaten erinnert uns an den 70 Jahre zurückliegenden 2. Weltkrieg, doch für viele Menschen auf der Erde ist dies heutiger lebensbedrohender Alltag. In einer Welt halten radikale Christen das Heft in der Hand, der biblische Schöpfungsmythos gilt als Wahrheit, und Empfängnisverhütung ist verboten. Einmal treffen sie auf Neanderthaler, die zusammen mit unserer Menschenart bis heute überlebt haben. Mißtrauen und Haß zwischen den beiden Spezies gemahnen an die Fremdenfeindlichkeit hier bei uns. Andere Welten ersticken in Überbevölkerung oder Umweltverschmutzung, anderswo werden die Menschen mittels Zusätzen in der Nahrung gefügig gehalten. Immer findet sich ein deutlicher Bezug zu unserer eigenen Situation, doch muß sich der Leser diesen selbst erschließen, denn der in anderen Erzählungen oft störend erhobene Zeigerfinger fehlt hier erfreulicherweise völlig.
Die Welten, die der unseren einigermaßen ähneln, spielen alle in Essen an der Ruhr. Dadurch kann der Essener Axel Kruse Lokalkolorit einbrigen, der sich sehr gut in die Geschichten integriert und sie bereichert. Besonders schön kommt dies in einer Welt zur Geltung, die der der Hauptprotagonistin Chris Folke extrem ähnelt, allerdings ist sie selbst hier bereits vorhanden. Der andere Unterschied ist weniger dramatisch, die Stadtbahnwaggons haben die falsche Farbe: Anders als in ihrer Herkunftswelt sind sie gelb – dieselbe Farbe wie in unserer eigenen Welt. Die Erkenntnis, daß Chris gar nicht aus unserer Welt stammt, ist für das Verständnis der Erzählung unerheblich, aber eine schöne Pointe, die bewußt mit der Erwartungshaltung des Lesers spielt.
Die Sprache ist auf den ersten Blick einfach gehalten, genaueres Hinlesen offenbart die sehr gute Sprachbeherrschung. Auch der Stil kommt schlicht daher, denn er stellt sich ganz in den Dienst der Erzählung. Die wird bewußt als einfache Abenteuergeschichte dargeboten, um den Fehler des erhobenen Zeigefingers zu vermeiden. Der Leser muß anhand der geschickten Hilfestellungen des Autors von selbst darauf kommen, daß es eine zweite Bedeutungsebene gibt, die unserer Welt anhand all der mängelbehafteten Alternativwelten den Spiegel vorhält.
»Seitwärts in die Zeit« ist eine Erzählung über Menschen in einer Extremsituation. Diese zwischen den Welten verlorenen Charaktere werden von Axel Kruse geschickt mit einer langen Reihe nicht idealer Parallelwelten verwoben, in denen verschiedene Probleme unserer heutigen Welt verdeutlicht werden. Dies geschieht ohne belehrenden Unterton, stattdessen wird gute Unterhaltung mit gutem, dem Zweck ideal angepaßten Stil und Sprache geboten, die den Leser unaufdringlich zum Nachdenken anregt. Aus diesen Gründen freut sich das Komitee, »Seitwärts in die Zeit« mit dem Deutschen Science Fiction Preis 2014 auszuzeichnen.
Martin Stricker